Alle Interviews Alle Interviews
Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing

Quelle: BMDV

Herr Wissing, ab diesem Jahr will die Bahn ihr Schienennetz von Grund auf sanieren. Das Unternehmen hat bereits angekündigt, dass die Kunden "durch ein Tal der Tränen" gehen müssen. Droht 2024 das große Bahn-Chaos?

Das Jahr 2024 ist der Beginn für die groß angelegte Sanierung unserer über die letzten Jahrzehnte leider stark vernachlässigten Infrastruktur. Es ist vernünftig, den Bahnkunden vorab klar zu sagen: Es wird eine herausfordernde Zeit. Pro Korridor aber nur für wenige Monate und danach wird vieles besser.

Was macht Sie da optimistisch?

Als erstes Projekt wird die Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim ab Sommer saniert, das ist eine der wichtigsten Strecken Deutschlands. Im Januar begannen, quasi als Testlauf, die vorbereitenden Arbeiten für die Generalsanierung. Dass das Blitzeis uns dann am Ende doch noch die pünktliche Freigabe verhagelt hat, ist misslich. Die drei Wochen liefen aber insofern gut, als dass alle Bauarbeiten in der vorgegebenen Zeit erledigt wurden. Und: Wir haben gesehen, dass die Beeinträchtigungen eben nicht zu einem Tal der Tränen geführt haben.

Bahnkunden sind leidgeprüft und rechnen oft mit dem Schlimmsten.

Deswegen gehen wir bei der Sanierung Schritt für Schritt vor. Insgesamt sollen 40 hoch belastete Bahnstrecken bis 2030 saniert und generalüberholt werden. Bei der Riedbahn fangen wir an, weil die Belastung hier besonders groß ist. Jeder fünfte Zug fährt über diese Trasse. Und natürlich wirkt sich eine Sperrung auf den gesamten Verkehr in Deutschland aus.

Das klingt dann doch wieder nach Tal der Tränen.

Es hilft nichts, wir müssen die Riedbahn angehen. Damit erzielen wir auch den größten Effekt. Jeden Tag gibt es auf der Strecke Probleme, weil die Infrastruktur veraltet ist – das hat dann Auswirkungen aufs gesamte Bahnnetz. Ich will es so sagen: Die Riedbahnsanierung lässt sich mit einer Operation an der Hauptschlagader vergleichen. Den Arzt zu fragen, ob diese Operation Schmerzen verursacht, ist keine Option, wenn die Alternative Kollaps oder Exitus lautet.

Die Strecke zwischen Mannheim und Frankfurt wird komplett gesperrt. Warum wird das Bahnnetz nicht bei laufendem Betrieb saniert? Das könnte die Auswirkungen für die Kunden doch lindern – zumindest in der Theorie.

Zunächst einmal führt jede Baustelle, egal welcher Art, zu Beeinträchtigungen. In der Vergangenheit wurde überwiegend unter dem rollenden Rad saniert. Das heißt, es wurde gebaut, während der Verkehr lief. Nur: Das hat zu immer mehr Baustellen geführt. Man muss also sagen: Diese Methode ist gescheitert, sie ist nicht effizient. Vollsperrungen sind immer die letzte Option, aber sie sind in dem Fall notwendig, um schnellstmöglich voranzukommen.

Für die Modernisierung des Netzes wurde eigens eine neue Bahngesellschaft gegründet, die InfraGO. Das "GO" steht für gemeinwohlorientiert. Was heißt das konkret?

In der Verfassung steht, dass die Bahn einen Gemeinwohlauftrag hat. Aber es steht nirgends, was das genau bedeutet. Mit der InfraGO ändern wir das. Der Fokus liegt nun klar auf Modernisierung und Qualität des Netzes. Dafür sind in der Satzung der InfraGO acht Ziele verankert – etwa die Schaffung einer leistungsfähigen und effizienten Infrastruktur.

Die Bundesregierung hat für die Modernisierung der Bahn bis 2027 Investitionen von 40 bis 45 Milliarden Euro vorgesehen. Dieser Plan ist durch das Haushaltsurteil des Verfassungsgerichts ins Wanken geraten. Scheitert die Bahn-Sanierung am Geld?

Es ist richtig, dass der zusätzliche Investitionsbedarf bei 40 bis 45 Milliarden Euro liegt – über mehrere Jahre verteilt. Für das Jahr 2024 haben wir die Mittel, die wir brauchen. Mehr könnten auch nicht verbaut werden. Der Finanzplan wurde für die nächsten Jahre bereits um über 30 Milliarden Euro angehoben. Damit senden wir ein klares Signal an die Bauwirtschaft: Sie kann ihre Kapazitäten ausweiten, weil der Staat die Gelder bereits einplant.

Zuletzt hat der Streik der Lokführer Millionen Bahnkunden getroffen. Seit dieser Woche verhandeln GDL und Bahn wieder. Welche Erwartung hat der Verkehrsminister?

Ich erwarte, dass man sich auf etwas Vernünftiges im Interesse unserer Gesellschaft einigt. Alle Beteiligten am Verhandlungstisch haben eine Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Deswegen brauchen wir einen guten Kompromiss – am besten ohne weitere Streiks.

Es gab zuletzt Stimmen aus der Politik, das Streikrecht in bestimmten Bereichen der kritischen Infrastruktur – auch bei der Bahn – einzuschränken. Eine gute Idee?

Eine Regierung sollte nicht aktiv in laufende Tarifverhandlungen eingreifen. Auch nicht indirekt, indem mit Gesetzesänderungen gedroht wird.

Der verkehrspolitische Sprecher Ihrer Partei hat davon gesprochen, dass Lokführer zunehmend durch KI ersetzt werden sollen. Ist das eine Drohung in Richtung GDL?

Es ist sicher richtig, dass Technologien wie KI eine große Rolle auf der Schiene spielen werden, etwa um die Taktungen zu verbessern und Systeme zu automatisieren. Stand heute können wir aber auf keinen einzigen Lokführer verzichten und werden die Fachkräfte auch weiterhin brauchen. Wir sind dankbar, dass wir sie haben.

Kommen wir von der Schiene auf die Straße: Die "Letzte Generation" hat angekündigt, künftig den Verkehr nicht mehr zu blockieren. Wie sehr haben Sie sich über diesen Strategiewechsel gefreut?

Es ist gut, dass die Aktivisten zur Vernunft gekommen sind. Und vor allem: Ihre Aktionen waren kein Beitrag dazu, die Akzeptanz für Klimaschutz in der Gesellschaft zu erhöhen, im Gegenteil.

Jetzt hat die Gruppe angekündigt, die Verantwortlichen für vermeintliche Klimazerstörung direkt konfrontieren zu wollen. Damit ist auch der Verkehrsminister gemeint.

Wenn mir die "Letzte Generation" einen Brief schickt, dann lese ich ihn. Aber jeder Protest hat Grenzen. Bei Straftaten wird der Rechtsstaat mit aller Härte durchgreifen – gegen wen auch immer sie begangen werden.

Der Frust der Aktivisten rührt daher, dass der Verkehrssektor seine Klimaziele immer noch krass verfehlt. Warum bekommen Sie das Problem nicht in den Griff?

Ich finde schon die bisherige Herangehensweise falsch. Betrachtet man alle Sektoren zusammen, hat Deutschland seine Klimaziele bislang stets erreicht. Wir sollten uns ganz pragmatisch darauf konzentrieren, Emissionen dort zu reduzieren, wo das schneller und besser geht. Wer von sogenannten Sektoren spricht, entfernt sich vom eigentlichen Problem. Was heißt denn Sektor? Es geht doch konkret um Menschen, die bei der Bewältigung ihres Alltags CO2 emittieren.

Das zweifelt auch niemand an.

Aber es wird in der Debatte völlig ausgeblendet. Wir müssen aufhören, Probleme übermäßig zu verallgemeinern und uns einzureden, dass sie damit leichter zu beheben wären. Ich will konkret werden: Menschen fahren Auto, um Lebensmittel einzukaufen, um ihre Arbeitsstelle zu erreichen, um Angehörige zu pflegen oder ins Krankenhaus zu kommen. Es geht um die Frage, ob sich für diese Anlässe auf Verkehr verzichten lässt. Und das geht nicht.

Wir müssen also in Kauf nehmen, dass wir die Klimaziele reißen, weil wir den Verkehr nicht reduzieren können?

Nein. Aber die Vorstellung ist naiv, es müsse im Bereich Verkehr einfach ein Hebel umgelegt werden und schon gehen die Emissionen runter. Wir können Klimapolitik nicht gegen die Bürgerinnen und Bürger machen. Wenn wir erfolgreich Emissionen reduzieren wollen, müssen wir die Menschen überzeugen. Das geht nicht über Verbote, sondern nur über positive Anreize und gute Angebote.

Was schwebt Ihnen also vor?

Es ist entscheidend, den Individualverkehr auf Klimaneutralität umzustellen. Deshalb schaffen wir mit dem Ausbau der Ladeinfrastruktur die Voraussetzungen für den Hochlauf der Elektromobilität. Natürlich: Nicht jeder kann sich ein neues Elektrofahrzeug für mehrere zehntausend Euro leisten. Wir müssen also dringend einen Weg finden, wie Menschen günstiger Zugang zu E-Mobilität bekommen. Dazu sind wir in Gesprächen mit der Autoindustrie. Außerdem dürfen wir die Debatte nicht auf bestimmte Technologien verengen.

Was heißt das?

Wir verfolgen einen technologieoffenen Ansatz. Wir werden die Emissionen schneller verringern können, wenn wir uns alle Optionen offenhalten. E-Fuels und Wasserstoff können ebenfalls einen Beitrag zu klimaneutraler Mobilität leisten.

Und abseits davon?

Wir müssen auch überlegen, wie wir die Menschen motivieren, den ÖPNV zu nutzen. Das Deutschlandticket war ein erster, wichtiger Schritt. Es zählt aktuell elf Millionen Abonnentinnen und Abonnenten. Ein großer Erfolg. Ich bin immer bereit, neue Ideen für den Klimaschutz mitzudenken. Am Ende muss es aber um faire, ehrliche und realistische Angebote gehen. Wer den Leuten erzählt, ihr braucht das Auto nicht mehr und es gibt bald in jedem Dorf den Zehn-Minuten-Bahntakt bis vor die eigene Haustür, streut ihnen Sand in die Augen. Das ist Utopie.

In diesem Jahr stehen die Europawahl und drei Landtagswahlen an. Dann kommt schon die Bundestagswahl. Was können wir noch von der Ampel erwarten – oder droht ab jetzt nur noch individuelle Profilierung?

Natürlich haben alle Parteien Ziele. Als Fachminister habe ich Ihnen aber gesagt, welche Großprojekte wir angehen, etwa im Bereich der Infrastruktur. Beim Deutschlandticket ist es uns gelungen, den Preis für dieses Jahr stabil zu halten. Wir müssen schauen, wie es über das Jahr hinaus weitergeht. Die Arbeit hört also nicht auf wegen der Wahlkämpfe.

Der Bundeskanzler hatte im Sommer das Ziel ausgegeben, die Koalition solle "hämmern und klopfen, aber mit Schalldämpfer". Davon bemerken wir wenig. Geht es nur mit Streit in der Ampel?

Ich bin nicht der richtige Ansprechpartner für diese Frage, denn ich bin nicht derjenige, der zankt. Ich bin immer auf der Suche nach Lösungen und möchte Brücken bauen.

Sie sind aber Teil der Koalition.

Es ist doch klar, dass ein Dreierbündnis komplizierter ist als eines aus zwei Parteien. Und dass Koalitionspartner immer darum bemüht sind, ihre Unterschiede sichtbar zu machen. Nicht jede Diskussion ist Streit. Wichtig ist, dass am Ende eine gemeinsame Lösung präsentiert wird. Dieser Spagat ist nicht immer einfach. Die einen wollen, dass geräuschlos regiert wird, und die anderen wollen ihr Profil scharfkantig sichtbar machen. Ich würde sagen: Die Unterschiede haben wir jetzt ausführlich genug präsentiert. Jetzt können wir mehr von dem anderen machen.

Das Interview erschien ursprünglich hier auf web.de.